R. Bonderer: Willensnation wider Willen

Cover
Titel
Willensnation wider Willen. Die medialen Konflikte in der Entstehungszeit des Schweizer Nationalstaats (1830-1857)


Autor(en)
Bonderer, Roman
Erschienen
Basel 2021: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
462
Preis
CHF 75.00
von
Siegfried Weichlein, Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 wird in politischen Sonntagsreden und regelmässig am 1. August, aber auch in der historischen Analyse gerne mit dem Begriff der «Willensnation» erklärt. Sprachlich und konfessionell ganz unterschiedliche Kantone mit einer zusätzlichen starken regionalen Färbung hätten sich entschlossen, unter einem gemeinsamen Gesetz zu leben und so die Schweizer Nation zu bilden. Die Willensnation ist wohl das bekannteste und einflussreichste Schweizer Staatsgründungsnarrativ. Die Schweiz wurde so gesehen zu einer Nation aus eigenem Willen und nicht durch vorgängige Gemeinsamkeiten. Hier bietet sich dann regelmässig der Bezug zu Ernest Renans Sorbonne-Rede von 1882 «Qu’est-ce qu’une nation?» an, in der er die Nation als ein «plébiscite de tous les jours» bezeichnete, ein tägliches Plebiszit. Umgekehrt diente die Schweiz Renan als Vorbild für seinen Nationsbegriff.

Die vorliegende Berner Dissertation von Roman Bonderer arbeitet heraus, wie sehr der Begriff der Willensnation selbst interessengeleitet und perspektivisch und keinesfalls objektiv-beschreibend zu verstehen ist. Verschiedene Akteure und Kantone verstanden Unterschiedliches, wenn nicht Gegensätzliches unter der Nation. Das eingangs benannte Staatsgründungsnarrativ der Willensnation war für Bonderer im Kern liberal und bei den Liberalen zuhause, nicht aber bei den Katholisch-Konservativen. Die «Willensnation» fasst die liberale Sicht auf die Staatsgründung zusammen, nicht aber die aller Schweizer und schon gar nicht diejenige ihrer Gegner. Die Willensnation bildete für Bonderer mehr eine politische Kategorie des politischen Appells als eine analytische Verstehenshilfe. Bonderer stellte in seiner Untersuchung die Konflikte zwischen Liberalen, Konservativen und Radikalen in der zeitgenössischen Presse heraus. Dazu wertet er sieben katholische, konservative, liberale und radikale Zeitungen genau aus und zieht weitere zeitgenössische Flugschriften heran. Methodisch-theoretisch greift er auf die Arbeiten zur politischen Sprache von John Pocock, Reinhart Koselleck und Willibald Steinmetz zurück, der mit dem Begriff des politisch Sagbaren die politischen Debatten im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts analysierte. Politik benutzt Sprache nicht nur. Vielmehr kann nur das, was versprachlicht ist, auch politisch werden, ist Steinmetz’ und auch Bonderers Ausgangspunkt. Bonderer zeichnet ein detailgenaues Bild der politischen Kampfbegriffe Geschichte, Nation, Konfession und Männlichkeit zwischen 1830 und 1857 nach.

Diese Dissertation schöpft ihre Kraft aus dem Widerspruch zur These, dass die Vorstellung der Willensnation die treibende Kraft hinter der Nationalstaatsbildung vor und nach 1848 gewesen sei. Einer längeren Einleitung folgend organisiert der Autor seinen Stoff in fünf Blöcken. Er beginnt mit einem gerafften Überblick über den historischen Kontext von 1830 bis zum Neuenburgerhandel 1857. Im Zentrum der Arbeit stehen die vier Kapitel zu den umkämpften politischen Begriffen Geschichte der «Väter», Nation, Konfession und Männlichkeit. Abgeschlossen wird die Arbeit von einem Fazit, einer umfangreichen Bibliografie samt Auflistung der ausgewerteten Zeitungsausgaben und einem Index der Personen und Sachen.

In den vier begrifflichen Kontroversen um die Geschichte der Alten, der helvetischen Nation, der Konfession und der Männlichkeit arbeitet Bonderer tiefreichende Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen, aber auch zwischen Liberalen und Radikalen heraus, die eben nicht durch die Willensnation überwölbt wurden. Die reformierten Basler Konservativen verbündeten sich nicht mit den Katholisch-Konservativen Freiburgs, Luzerns und der Innerschweiz. In immer neuen Debattengegenden kann der Autor so herausarbeiten, dass die Staatsgründung und auch die nachfolgende innere Gründung der Schweiz weder auf einem expliziten noch einem impliziten Einverständnis als Willensnation unter den Kontrahenten beruhte. Vielmehr standen Liberale und Konservative selbst dann noch im Gegensatz, wenn die die gleichen Begriffe wie etwa «Väter» gebrauchten. Sie gaben diesen Begriffen gegensätzliche Bedeutungen.

Da dieser Nachweis der Konflikte Mal ums Mal beim Verständnis der Geschichte, der Nation, der Konfession der Männlichkeit geführt wird, kommt es im Text zu Redundanzen. Nicht historischer Wandel soll erklärt werden, sondern die These der Willensnation widerlegt werden. Bonderer schreibt explizit gegen Ursula Meyerhofer, Irène Herrmann und etwas weniger scharf gegen Oliver Zimmer an, die seiner Lesart nach die Willensnation als Motiv der Staatsgründung vertreten. Dabei arbeitet Zimmer in «A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761–1891» (Cambridge UP 2003) explizit und eingehend die gegensätzlichen Positionen des «community based» Föderalismus der katholischen Kantone und des willensbasierten Bundesstaates der Liberalen heraus. Auch Meyerhofer und Herrmann werden sehr vereinfachend und holzschnittartig auf die Position der «Willensnation» verkürzt. Nicht zuletzt arbeiten die genannten Autoren und Autorinnen mit anderen Methoden und Quellen. So einleuchtend die Konfliktthese Bonderers auch ist, die er im Stile des «sed contra» umfassend und anschaulich belegen kann, so wenig ist sie radikal neu. Das Verständnis der Arbeit wird durch die umständliche und komplizierte Sprache nicht erleichtert. Die Analyse politischer Bilder und Karikaturen hätte zudem gerade bei dieser Studie zu den medialen Konflikten vor und nach 1848 erkenntnisfördernd gewirkt.

Zitierweise:
Weichlein, Siegfried: Rezension zu: Bonderer, Roman: Willensnation wider Willen: Die medialen Konflikte in der Entstehungszeit des Schweizer Nationalstaats (1830–1857), Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 303-304. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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